Kompakt Allgemeinmedizin
Dr. med Justus de Zeeuw
Dr. med Justus de Zeeuw

Stets an unserer Seite – Placebo

Ist Placebo gut oder schlecht? Der Begriff ist meist negativ konno­tiert, indem er mit Wirkungs­lo­sig­keit asso­zi­iert wird. Dabei spielt der Place­bo­ef­fekt im ärzt­li­chen Alltag eine wich­tige Rolle.

Auf einer Vortrags­reise nach Riga ergab es sich, dass der Refe­rent am Vorabend des Vortrages den kolle­gialen Austausch an der Hotelbar aktiv mitge­stal­tete. Am nächsten Morgen zeugten Kopf­schmerzen von der abend­li­chen Zecherei. Die Lösung schien einfach: Eine Aspirin im Wasser­glas aufge­löst – nach weniger als 30 Minuten war die Sympto­matik verschwunden und der Vortrag beschwer­de­frei gehalten. „Wahn­sinn, wie gut so eine Tablette wirkt“, dachte sich der Experte und zog sich auf sein Hotel­zimmer zurück. Dort ange­kommen, fiel der Blick auf das Side­board: Unan­ge­tastet stand dort das volle Wasser­glas samt darin aufge­löster Tablette. Nun hatte der Medi­ziner am eigenen Leib verspürt, wie wunderbar ein Placebo wirkt.

Jede thera­peu­ti­sche Maßnahme, jedes Medi­ka­ment umfasst in der wahr­ge­nom­menen Wirkung eine ganze Reihe von Effekten: Regres­sion zur Mitte (extreme Zustände tendieren zur Milde­rung), natür­li­cher Verlauf, Hawt­horne-Effekt (Verhal­tens­än­de­rung unter Beob­ach­tung), ärzt­liche Empa­thie und der Place­bo­ef­fekt [1]. Die Aufzäh­lung macht einer­seits deut­lich, dass wir das Ausmaß des spezi­fi­schen Effekts einer Therapie nur schwer erfassen können (rando­mi­sierte, place­bo­kon­trol­lierte Studien sollen genau das ermög­li­chen), ande­rer­seits wird klar, dass es nicht entweder den Placebo- oder den Substanz­ef­fekt gibt, sondern dass im wahren Leben beides parallel funktioniert.

Eine 30-jährige Pati­entin berich­tete bei Erst­vor­stel­lung, dass sie Eiskunst­lauf als neues Hobby entdeckt habe. Aller­dings müsse sie nach einiger Zeit in der kalten Eishalle husten. Die Therapie dieser bron­chialen Über­emp­find­lich­keit mit einem inha­la­tiven Steroid zeigte Wirkung, bei Wieder­vor­stel­lung war die Sympto­matik verschwunden. Der neuen Leiden­schaft konnte nun beschwer­de­frei nach­ge­gangen werden, es blieb nur eine Frage offen: Wie kommt das Pulver aus der Kapsel eigent­lich in die Atem­wege? Bei der Erör­te­rung stellt sich heraus, dass trotz Schu­lung bei der Verwen­dung des Kapsel­in­ha­la­tors das Einste­chen der Kapsel nie erfolgt war – es war also keine einzige Dosis des Wirk­stoffes inha­liert worden. Der volle Erfolg der Therapie war in diesem Fall allein durch den Place­bo­ef­fekt zu erklären.

Verfechter der soge­nannten Homöo­pa­thie verweisen wegen des fehlenden Nach­weises eines spezi­fi­schen Effektes letzt­lich auf den Placebo­effekt der Globuli, der ja immerhin besser sei als nichts. Vor diesem Hinter­grund kommt man nicht umhin, sich 2 Fragen zu stellen: Soll eine Therapie, die für sich genommen keinerlei spezi­fi­sche Wirkung hat, sondern ledig­lich auf den Placebo-Effekt baut, tatsäch­lich zulasten der Versi­cher­ten­ge­mein­schaft verordnet werden? Und sollte eine Therapie, deren vorran­gige Wirkung auf dem Place­bo­ef­fekt beruht, ihre Wirk­weise über Mecha­nismen erklären, die sich jeder wissen­schaft­li­chen Beob­ach­tung entziehen? Placebo-Medi­ka­mente sind sogar dann wirksam, wenn die Anwender sich bewusst sind, ein Schein­me­di­ka­ment einzu­setzen [2]. Es besteht also gar keine Notwen­dig­keit, den Einsatz eines Placebos durch verquaste Rituale und Neolo­gismen zu verbrämen.

Nega­tive Erwar­tungen gegen­über einem Medi­ka­ment sind regel­haft Ursache von Neben­wir­kungen. Im ­Praxis­alltag ist vorher­sehbar, dass nach dem Durch­pro­bieren von 4 Wirk­stoffen, die alle wegen Unver­träg­lich­keit abge­setzt werden mussten, auch das 5. Präparat auf verlo­renem Posten stehen wird. So wie Placebo auf vorhe­rigen, posi­tiven Erfah­rungen aufbaut, werden mit einer Vort­he­rapie gemachte, nega­tive Erfah­rungen eben­falls mitge­nommen und auf die nächste Therapie über­tragen [3]. Insbe­son­dere, wenn die wahr­ge­nom­menen Phäno­mene nicht unmit­telbar über den Wirk­me­cha­nismus herzu­leiten sind, handelt es sich um ein Nocebo-Phänomen. Eine aktu­elle Analyse der Placebo-Arme in Studien zur Vakzi­na­tion gegen SARS-CoV‑2 kam zu dem Schluss, dass bis zu 2/3 der im Rahmen der Impfung geschil­derten Neben­wir­kungen ausschließ­lich durch den Nocebo-Effekt zu erklären waren [4].

Wichtig ist diese Erkenntnis vor allem für die Wahl des zuerst einge­setzten Medi­ka­mentes: Mit dem schwächsten Wirk­stoff zu beginnen, kann die Effek­ti­vität der nach­fol­gend einge­setzten Präpa­rate negativ beein­flussen. Prak­ti­sche Umset­zung findet dieser Gedanke bspw. in der aktu­ellen, fach­ärzt­li­chen Leit­linie für die Behand­lung des Asthmas: Bei Kindern und Jugend­li­chen wird nach Thera­pie­start mit einer ICS/LABA-Kombi­na­tion bei Thera­pie­er­folg die Reduk­tion auf eine ICS-Mono­the­rapie empfohlen [5]. Also erst Thera­pie­er­folg, dann Deeskalation.

Auch Tiere, die natur­gemäß selbst nicht an den Placebo-Effekt glauben, werden über klas­si­sche Kondi­tio­nie­rung oder den Placebo-by-proxy-Effekt eben­falls erreicht. Unsere mensch­li­chen Pati­enten genießen den Vorteil, dass sowohl sie selbst als auch wir an die Wirkung glauben. Bei der Versor­gung unserer Pati­en­tinnen und Pati­enten sind also die vermeint­li­chen Erfolge der sorgsam ausge­wählten Therapie mit Sicher­heit auch dem Placebo zu verdanken, das immer auf unserer Seite steht.

Dr. med. Justus de Zeeuw

Lite­ratur

  1. Ernst E. The worst plati­tude of them all? www.edzardernst.com. veröf­fent­licht 06.09.2013.
  2. von Werns­dorff et al. Effects of open-label placebos in clinical trials: a syste­matic review and meta-analysis. Sci Rep 2021;11(1):3855.
  3. Bingel U et al. The effect of treat­ment expec­ta­tion on drug effi­cacy: imaging the anal­gesic benefit of the opioid remi­fen­tanil. Sci Transl Med 2011;3(70):70ra14.
  4. Haas JW et al. Frequency of adverse events in the placebo arms of COVID-19 vaccine trials: A syste­matic review and meta-analysis. JAMA Netw Open 2022;5(1):e2143955.
  5. Lommatzsch M et al. S2k-Leit­linie zur fach­ärzt­li­chen Diagnostik und Therapie von Asthma 2023. AWMF-Regis­ternr. 020–009.
 

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