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Stets an unserer Seite – Placebo




Ist Placebo gut oder schlecht? Der Begriff ist meist negativ konnotiert, indem er mit Wirkungslosigkeit assoziiert wird. Dabei spielt der Placeboeffekt im ärztlichen Alltag eine wichtige Rolle. Auf einer Vortragsreise nach Riga ergab es sich, dass der Referent am Vorabend des Vortrages den kollegialen Austausch an der Hotelbar aktiv mitgestaltete. Am nächsten Morgen zeugten Kopfschmerzen von der abendlichen Zecherei. Die Lösung schien einfach: Eine Aspirin im Wasserglas aufgelöst – nach weniger als 30 Minuten war die Symptomatik verschwunden und der Vortrag beschwerdefrei gehalten. „Wahnsinn, wie gut so eine Tablette wirkt“, dachte sich der Experte und zog sich auf sein Hotelzimmer zurück. Dort angekommen, fiel der Blick auf das Sideboard: Unangetastet stand dort das volle Wasserglas samt darin aufgelöster Tablette. Nun hatte der Mediziner am eigenen Leib verspürt, wie wunderbar ein Placebo wirkt. Jede therapeutische Maßnahme, jedes Medikament umfasst in der wahrgenommenen Wirkung eine ganze Reihe von Effekten: Regression zur Mitte (extreme Zustände tendieren zur Milderung), natürlicher Verlauf, Hawthorne-Effekt (Verhaltensänderung unter Beobachtung), ärztliche Empathie und der Placeboeffekt [1]. Die Aufzählung macht einerseits deutlich, dass wir das Ausmaß des spezifischen Effekts einer Therapie nur schwer erfassen können (randomisierte, placebokontrollierte Studien sollen genau das ermöglichen), andererseits wird klar, dass es nicht entweder den Placebo- oder den Substanzeffekt gibt, sondern dass im wahren Leben beides parallel funktioniert. Eine 30-jährige Patientin berichtete bei Erstvorstellung, dass sie Eiskunstlauf als neues Hobby entdeckt habe. Allerdings müsse sie nach einiger Zeit in der kalten Eishalle husten. Die Therapie dieser bronchialen Überempfindlichkeit mit einem inhalativen Steroid zeigte Wirkung, bei Wiedervorstellung war die Symptomatik verschwunden. Der neuen Leidenschaft konnte nun beschwerdefrei nachgegangen werden, es blieb nur eine Frage offen: Wie kommt das Pulver aus der Kapsel eigentlich in die Atemwege? Bei der Erörterung stellt sich heraus, dass trotz Schulung bei der Verwendung des Kapselinhalators das Einstechen der Kapsel nie erfolgt war – es war also keine einzige Dosis des Wirkstoffes inhaliert worden. Der volle Erfolg der Therapie war in diesem Fall allein durch den Placeboeffekt zu erklären. Verfechter der sogenannten Homöopathie verweisen wegen des fehlenden Nachweises eines spezifischen Effektes letztlich auf den Placebo­effekt der Globuli, der ja immerhin besser sei als nichts. Vor diesem Hintergrund kommt man nicht umhin, sich 2 Fragen zu stellen: Soll eine Therapie, die für sich genommen keinerlei spezifische Wirkung hat, sondern lediglich auf den Placebo-Effekt baut, tatsächlich zulasten der Versichertengemeinschaft verordnet werden? Und sollte eine Therapie, deren vorrangige Wirkung auf dem Placeboeffekt beruht, ihre Wirkweise über Mechanismen erklären, die sich jeder wissenschaftlichen Beobachtung entziehen? Placebo-Medikamente sind sogar dann wirksam, wenn die Anwender sich bewusst sind, ein Scheinmedikament einzusetzen [2]. Es besteht also gar keine Notwendigkeit, den Einsatz eines Placebos durch verquaste Rituale und Neologismen zu verbrämen. Negative Erwartungen gegenüber einem Medikament sind regelhaft Ursache von Nebenwirkungen. Im ­Praxisalltag ist vorhersehbar, dass nach dem Durchprobieren von 4 Wirkstoffen, die alle wegen Unverträglichkeit abgesetzt werden mussten, auch das 5. Präparat auf verlorenem Posten stehen wird. So wie Placebo auf vorherigen, positiven Erfahrungen aufbaut, werden mit einer Vortherapie gemachte, negative Erfahrungen ebenfalls mitgenommen und auf die nächste Therapie übertragen [3]. Insbesondere, wenn die wahrgenommenen Phänomene nicht unmittelbar über den Wirkmechanismus herzuleiten sind, handelt es sich um ein Nocebo-Phänomen. Eine aktuelle Analyse der Placebo-Arme in Studien zur Vakzination gegen SARS-CoV-2 kam zu dem Schluss, dass bis zu 2/3 der im Rahmen der Impfung geschilderten Nebenwirkungen ausschließlich durch den Nocebo-Effekt zu erklären waren [4]. Wichtig ist diese Erkenntnis vor allem für die Wahl des zuerst eingesetzten Medikamentes: Mit dem schwächsten Wirkstoff zu beginnen, kann die Effektivität der nachfolgend eingesetzten Präparate negativ beeinflussen. Praktische Umsetzung findet dieser Gedanke bspw. in der aktuellen, fachärztlichen Leitlinie für die Behandlung des Asthmas: Bei Kindern und Jugendlichen wird nach Therapiestart mit einer ICS/LABA-Kombination bei Therapieerfolg die Reduktion auf eine ICS-Monotherapie empfohlen [5]. Also erst Therapieerfolg, dann Deeskalation. Auch Tiere, die naturgemäß selbst nicht an den Placebo-Effekt glauben, werden über klassische Konditionierung oder den Placebo-by-proxy-Effekt ebenfalls erreicht. Unsere menschlichen Patienten genießen den Vorteil, dass sowohl sie selbst als auch wir an die Wirkung glauben. Bei der Versorgung unserer Patientinnen und Patienten sind also die vermeintlichen Erfolge der sorgsam ausgewählten Therapie mit Sicherheit auch dem Placebo zu verdanken, das immer auf unserer Seite steht.

Dr. med. Justus de Zeeuw

Literatur
  1. Ernst E. The worst platitude of them all? www.edzardernst.com. veröffentlicht 06.09.2013.
  2. von Wernsdorff et al. Effects of open-label placebos in clinical trials: a systematic review and meta-analysis. Sci Rep 2021;11(1):3855.
  3. Bingel U et al. The effect of treatment expectation on drug efficacy: imaging the analgesic benefit of the opioid remifentanil. Sci Transl Med 2011;3(70):70ra14.
  4. Haas JW et al. Frequency of adverse events in the placebo arms of COVID-19 vaccine trials: A systematic review and meta-analysis. JAMA Netw Open 2022;5(1):e2143955.
  5. Lommatzsch M et al. S2k-Leitlinie zur fachärztlichen Diagnostik und Therapie von Asthma 2023. AWMF-Registernr. 020-009.