Kompakt Allgemeinmedizin
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Die Impfformel: Schnelles Impfen könnte Lockdown auch bei leicht steigenden Inzidenzen vermeiden

Nach wie vor sind durch die Pandemie in erster Linie ältere Menschen betroffen: Wenn sich jeder in der Bevöl­ke­rung mit SARS-CoV‑2 infi­zieren würde, würden in Deutsch­land statis­tisch gesehen 1,5 Millionen der Menschen über 60 sterben, von den Unter-60-Jährigen wären es „nur“ 75.000. Daher setzen Impf­stra­te­gien – abge­sehen von bestimmten beson­ders expo­nierten Bevöl­ke­rungs­gruppen – häufig bei den älteren Menschen an mit dem Ziel, eine Über­las­tung des Gesund­heits­sys­tems durch schwere COVID-19-Verläufe und hohe Todes­zahlen zu vermeiden. Denn das Impfen von nur einem Viertel der Bevöl­ke­rung kann 95 Prozent der Todes­fälle verhindern.

Prof. Clau­dius Gros vom Institut für Theo­re­ti­sche Physik der Goethe-Univer­sität Frank­furt und Dr. Daniel Gros vom Center for Euro­pean Poli­cies Studies (CEPS) haben bei der Entwick­lung ihrer Impf­formel daher den älteren Teil der Bevöl­ke­rung in den Blick genommen. Denn die COVID-19-Todes­zahlen werden von drei Faktoren bestimmt. Der Infek­ti­ons­rate, der Abhän­gig­keit der Ster­be­rate vom Alter, sowie von der Struktur der Alters­py­ra­mide. Deutsch­land ist daher, wie fast alle Länder Europas, beson­ders anfällig für die dritte Welle: Das Durch­schnitts­alter der Bevöl­ke­rung ist hoch, die neue Mutante ist hoch­in­fek­tiös, die Impf­ge­schwin­dig­keit hingegen nimmt nur langsam zu. Um die Pande­mie­folgen beherrschbar zu halten, müssen daher umfang­reiche Kontakt­be­schrän­kungen die Infek­ti­ons­rate niedrig halten.

Ab welchem Punkt gelo­ckert werden kann, lässt sich den beiden Wissen­schaft­lern aus Frank­furt und Brüssel zufolge mit einer Faust­formel bestimmen: Sie setzt die wöchent­liche Zunahme der Infek­ti­ons­zahlen in Rela­tion zur Stei­ge­rung der pro Woche vorge­nom­menen Impfungen. Verein­facht lautet der Zusam­men­hang: Erkranken x Prozent der Bevöl­ke­rung mehr pro Woche, müssen im selben Zeit­raum x*f/100 Prozent der Bevöl­ke­rung mehr geimpft werden. Der Faktor f, der am Anfang der Impf­kam­pagne f=2 war, steigt, wenn schon ein Teil der Bevöl­ke­rung voll­ständig geimpft wurde. Derzeit haben wir f=6. Das heißt, wenn die Inzi­denz um x=20 Prozent pro Woche steigt, müssten 20*6/100=1,2 % der Bevöl­ke­rung zusätz­lich (voll­ständig) geimpft werden. Diese gilt für die Impf­dosen, die nach Alter verab­reicht werden. Dabei ist zu berück­sich­tigen, dass zwei Impf­dosen für eine voll­stän­dige Immu­ni­sie­rung notwendig sind.

Dr. Daniel Gros erläu­tert: „Da diese Impf­ge­schwin­dig­keit derzeit verhält­nis­mäßig gering ist, dürfte nach unseren Berech­nungen die 7‑Tagesinzidenz pro Woche nicht mehr als 13 bis 16 Prozent ansteigen, damit die Todes­raten gering bleiben und das Gesund­heits­system nicht über­lastet wird. Im Laufe der vergan­genen Woche aller­dings stiegen die Infek­ti­ons­zahlen um 25 Prozent, damit sind umfang­reiche Kontakt­be­schrän­kungen unaus­weich­lich, und aggres­sive Mutanten haben mehr Möglich­keiten, sich auszubreiten.“

Prof. Clau­dius Gros meint: „Die von uns entwi­ckelte Formel erlaubt eine einfache und schnelle Abschät­zung, die zeigt, wie schnell wir impfen müssten, um die Folgen der Pandemie für das Gesund­heits­wesen beherrschbar zu halten. Wir haben es leider versäumt, zum Beispiel durch höhere Preise für früh herge­stellte Impf­dosen Anreize für die Phar­ma­un­ter­nehmen zu setzen, ihre Produk­tion rasch zu stei­gern, was immer sehr kosten- und ressour­cen­in­tensiv ist. Daher haben sich die Unter­nehmen, wie wir in einer früheren Arbeit vorher­ge­sagt haben, für eine lineare Produk­ti­ons­stei­ge­rung entschieden. Aus unter­neh­me­ri­scher Sicht ist das kosten­ef­fektiv, aber es führt dazu, dass wir nicht schnell genug über ausrei­chend Impf­stoff verfügen.“

Originalpublikation:

Clau­dius Gros und Daniel Gros, „How fast must vacci­na­tion campaigns proceed in order to beat rising Covid-19 infec­tion numbers?“ in: Covid Economic, in press. https://arxiv.org/abs/2103.15544

Quelle: Goethe-Univer­sität Frank­furt am Main, 1.4.21



 

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