Kompakt Allgemeinmedizin
Dr. med Justus de Zeeuw
Dr. med Justus de Zeeuw

Shared decision-making

Der vom Heuschnupfen geplagte Fußball­profi erschien 2 Tage nach Verord­nung eines Nasen­sprays wieder in der Praxis: Die Beschwerden bestünden unver­än­dert. Gefragt, ob das Spray denn gar keinen Effekt habe, antwor­tete er: „Soll ich das etwa mal nehmen?“ Offen­sicht­lich war diese wesent­liche Infor­ma­tion im vorhe­rigen Kontakt für diesen Pati­enten nicht in hinrei­chendem Maße vermit­telt worden.

Kommu­ni­ka­tion auf Augen­höhe, das soge­nannte shared decision-making, ist ein hehres Ziel, letzt­lich soll so eine opti­male Adhä­renz zur vorge­schla­genen Therapie erreicht werden. „Diese Wirk­stoff­kom­bi­na­tion gibt es als Spray oder als Pulver – welche Vari­ante möchten Sie?“ – „Weiß nicht, welche ist denn besser? Das müssen Sie doch wissen.“ – So könnte der Einstieg in ein umfas­sendes, allen Regeln der parti­zi­pa­tiven Entschei­dungs­fin­dung folgendes Gespräch sein. Oder auch nicht: Ist das Ergebnis so viel schlechter, wenn statt­dessen auf die Auswahl­mög­lich­keit verzichtet und einfach eine der beiden Vari­anten rezep­tiert würde?

Barrieren für die medi­ka­men­töse Adhä­renz gibt es einige. Ein Review über 38 quali­tativ geeig­nete Studien zur Adhä­renz am Beispiel der COPD fand im Jahr 2020 nahe­lie­gende Gründe: Eine komor­bide Depres­sion, Sorge vor Neben­wir­kungen, fort­ge­setztes Rauchen, Vergess­lich­keit, unzu­rei­chende Inha­la­ti­ons­technik und Poly­phar­mazie wurden am häufigsten genannt [1]. Doch nicht nur pati­en­ten­be­zo­gene Faktoren spielen für die Thera­pie­treue eine Rolle, auch die Arzt-Pati­enten-Kommu­ni­ka­tion ist von Bedeutung.

It takes two to tango“ wusste schon Ronald Reagan, der diese Rede­wen­dung populär machte [2]. Was nützt die beste Infor­ma­tion, wenn sie den Adres­saten nicht erreicht? Was bringt die elabo­rierte Gesprächs­technik, wenn der Gegen­über nicht mitspielt? Menschen sind verschieden, und so gilt es, sich auf unter­schied­liche Typen einzustellen.

Im Zusam­men­hang mit der parti­zi­pa­tiven Entschei­dungs­fin­dung wird regel­mäßig eine Studie der Boston Consul­ting Group zitiert, die sich mit der Charak­te­ri­sie­rung genau dieser unter­schied­li­chen Pati­en­ten­typen befasst [3]. Diese ist zwar im Original nicht verfügbar/auffindbar, die qua Sekun­där­li­te­ratur über­lie­ferte Eintei­lung ist im Hinblick auf die Praxis dennoch von Inter­esse. Beschrieben werden 4 Charak­tere, wobei diese je nach Krank­heits­bild und Lebens­si­tua­tion wech­selnd ausge­prägt sein können. Der „akzep­tie­rende“ Patient ist von der Exper­tise seiner Ärzte über­zeugt und über­lässt ausschließ­lich diesen die Thera­pie­ent­schei­dung, ebenso wie die Infor­ma­ti­ons­über­mitt­lung und die Doku­men­ta­tion. Der „aufge­klärte“ Patient ist bereit, aktiv seine Heilung zu beför­dern, und ergreift eigen­ver­ant­wort­lich Thera­pie­maß­nahmen (Beispiel: Anpas­sung der Insulin­dosis je nach Blut­zu­cker­wert). Der „invol­vierte“ Patient zeigt hohes Enga­ge­ment und fordert dabei seine Ärzte auch heraus, sucht den Dialog und die Diskus­sion. Es besteht Inter­esse an Präven­tion und gesund­heits­be­wusstem Verhalten. Der „steu­ernde“ Patient tritt selbst­be­wusst auf und über­prüft ärzt­liche Empfeh­lungen anhand anderer Quellen wie Internet oder Zweit­mei­nung. Zu jedweder Gesund­heits­frage nutzt dieser Typus analoge und digi­tale Medien, um seine Gesund­heits­kom­pe­tenz zu verbessern.

Die Frage, welcher Pati­en­tentyp gerade vor einem sitzt, ist im Alltag nicht immer leicht zu beant­worten. Zum einen, da ein und dieselbe Person je nach Situa­tion verschie­dene Rollen einnehmen kann, zum anderen, da der Charakter des Beob­ach­ters die Wahr­neh­mung beein­flusst: Mit wem man „gut“ kann, hängt auch von der eigenen Persön­lich­keit ab.

Die parti­zi­pie­rende Entschei­dungs­fin­dung wird in zahl­rei­chen Publi­ka­tionen als bevor­zugte Methode der Kommu­ni­ka­tion empfohlen. Wie steht es um die Evidenz? Eine Über­sichts­ar­beit hat 2015 die bis dato verfüg­bare Lite­ratur im Hinblick auf beleg­bare Effekte unter­sucht [4]. Im Ergebnis fühlten sich Personen, die den subjek­tiven Eindruck hatten, an der Entschei­dungs­fin­dung betei­ligt worden zu sein, tenden­ziell wohler – die Formu­lie­rung wurde aufgrund der geringen Evidenz bewusst vage gehalten. Hinsicht­lich des Verhal­tens, also der verbes­serten medi­ka­men­tösen Adhä­renz, oder gar klinisch rele­vanter Endpunkte, beklagen die Reviewer einen Mangel an belast­baren Daten.

Die Autoren einer 1997 erschie­nenen Über­sicht zum shared deci­cison-making fassten bereits damals das Dilemma bei der wissen­schaft­li­chen Bear­bei­tung dieses Themas tref­fend zusammen [5]. Zum einen weisen sie darauf hin, dass es auf Pati­en­ten­seite ein sehr breites Spek­trum hinsicht­lich der Wahr­neh­mung gibt, inwie­weit die Einbe­zie­hung bei der Entschei­dungs­fin­dung hinrei­chend erfolgt und auch gewünscht ist. Dieses reicht vom Wunsch nach einem pater­na­lis­ti­schen Ansatz ohne jegliche Mitsprache bis hin zur Sorge, sich selbst über­lassen zu werden und die volle Verant­wor­tung für die Folgen der getrof­fenen Entschei­dung aufge­bürdet zu bekommen. Des Weiteren merken die Autoren an, dass ein starres Konzept zur Vorge­hens­weise beim shared decision-making sich negativ auf die in der Regel sehr persön­liche und indi­vi­du­elle Arzt-Pati­enten-Bezie­hung auswirken könnte.

Letzt­lich bleibt für das Thema der parti­zi­pie­renden Entschei­dungs­fin­dung die Erkenntnis, dass das Fehlen von Evidenz nicht die Evidenz für das Fehlen eines Nutzens ist. Für den Alltag bedeutet dies aller­dings auch, dass man abwägen darf, ob das zu erör­ternde Thema wirk­lich der weiter­rei­chenden Einbin­dung des Gegen­übers im Sinne des shared decision-making bedarf oder ob man – ohne die Wahl zwischen Pulver und Spray zu eröffnen – einfach eines von beiden rezeptiert.

Dr. med. Justus de Zeeuw

Lite­ratur

  1. Bhat­tarrai B et al. Barriers and Stra­te­gies for Impro­ving Medi­ca­tion Adhe­rence Among People Living With COPD: A Syste­matic Review. Respir Care 2020;65(11):1738–1750
  2. Tran­script of Presi­dent’s News Confe­rence on Foreign and Dome­stic Affairs, New York Times, 12.11.1982
  3. https://www.stiftung-gesundheitswissen.de/gesundes-leben/patient-arzt/patient-und-partner
  4. Shay LA, Lafata JE. Where is the evidence? A syste­matic review of shared decision making and patient outcomes. Med Decis Making 2015; 35(1):114–131
  5. Charles C, Gafni A. Shared decision-making in the medical encounter: What does it mean? (or it takes at least two to tango). Soc Sci Med 1997;44(5):681–692
 

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