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Grippeimpfung zur Demenzprävention? – Studie generiert neue Hypothese

Eine an 120.000 US-Vete­ranen durch­ge­führte retro­spek­tive Studie [1] zeigte, dass regel­mä­ßige Grip­pe­imp­fungen (mehr als 6 Impfungen binnen 80 Monaten) das Demenz­ri­siko signi­fi­kant um 12 Prozent redu­zierten. Auch gibt es dazu einen plau­si­blen patho­phy­sio­lo­gi­schen Erklä­rungs­ver­such, der bereits tier­ex­pe­ri­men­tell nach­ge­wiesen werden konnte. Dennoch sind die Experten in ihrer Inter­pre­ta­tion der Daten vorsichtig und verweisen darauf, dass Asso­zia­ti­ons­stu­dien keinen Beweis­cha­rakter haben.

Eine aktu­elle Studie unter­stützt eine span­nende Hypo­these: Demnach könnte die regel­mä­ßige Grip­pe­imp­fung zu einem gerin­geren Demenz­ri­siko führen. Unter­sucht wurde eine große Popu­la­tion bestehend aus über 120.000 US-Vete­ranen (ehema­lige Mili­tär­an­ge­hö­rige) im Alter von durch­schnitt­lich 75,5 Jahren (±7,3). Nur 3,8% waren weib­lich, 91,6% hatten eine weiße Haut­farbe. Analy­siert wurden die Kran­ken­akten der Studi­en­teil­neh­menden zwischen dem 1. September 2009 und dem 31. August 2019. Einschluss­kri­te­rium war, dass bei den Pati­en­tinnen und Pati­enten, die in die Auswer­tung eingingen, zwei Jahre vor Studi­en­be­ginn sowie zum Zeit­punkt des Einschlusses in die Studie keine Demenz­dia­gnose vorlag.

Die Studi­en­teil­neh­menden wurden dann in Gruppen klas­si­fi­ziert, je nachdem, ob und wie viele Grip­pe­imp­fungen sie im Studi­en­zeit­raum erhalten hatten. Im Anschluss daran wurde analy­siert, bei wie vielen Personen eine Demenz neu auftrat (defi­niert nach Vorhan­den­sein entspre­chender ICD‑9/ICD-10-Codes in den Kran­ken­akten im Verlauf). Der Effekt von Kova­ria­blen wie Alter, ethni­sche Zuge­hö­rig­keit, Geschlecht, Fami­li­en­status sowie Versi­che­rungs­status – alles Faktoren, die auf das Demenz­ri­siko Einfluss nehmen – wurde heraus­ge­rechnet, auch die Häufig­keit der Arzt­be­suche wurde mitana­ly­siert, um einen mögli­chen „Früh­erken­nungs­bias“ zu verringern.

Insge­samt betrug die mediane Beob­ach­tungs­dauer 80 Monate bei den geimpften Personen und 81 Monate bei den Unge­impften. 15.933 Studi­en­teil­neh­mende erkrankten während dieser Phase neu an einer Demenz. Die Analyse ergab, dass die Inan­spruch­nahme von Grip­pe­imp­fungen mit einem gerin­geren Demenz­ri­siko einher­ging. Aller­dings kam der Effekt nur dann zum Tragen, wenn insge­samt mehr als sechs Grip­pe­imp­fungen inner­halb des Beob­ach­tungs­zeit­raums verab­reicht wurden. Damit wurde in dieser Erhe­bung das Demenz­ri­siko durch die Impfungen signi­fi­kant um 12 Prozent gesenkt (HR: 0,88).

Dieser Effekt ist nicht uner­heb­lich. Bei jähr­lich etwa 330.000 Demenz-Neuerkran­kungen in Deutsch­land könnten somit durch regel­mä­ßige Grip­pe­imp­fungen fast 40.000 Menschen jähr­lich vor der Diagnose Demenz bewahrt werden. Aller­dings muss man hervor­heben, dass es sich hier um eine retro­spek­tive Auswer­tung handelt, zwar eine mit einer hohen Zahl an Studi­en­teil­neh­menden und sorg­fäl­tiger Durch­füh­rung, die aber dennoch keinen Beweis­cha­rakter hat, sondern nur eine Asso­zia­tion aufzeigen kann. Es liegen schon mehrere solcher Asso­zia­ti­ons­stu­dien vor, nicht nur zu Grip­pe­imp­fungen, sondern auch zu Impfungen gegen Diph­therie oder Tetanus.

Auch expe­ri­men­telle Studien haben auf einen Zusam­men­hang zwischen Impfungen und gerin­gerem Demenz­ri­siko hinge­deutet. Die Hypo­these, die die aktu­elle Studie gene­riert, lässt sich also auch patho­phy­sio­lo­gisch begründen, flan­kiert durch tier­ex­pe­ri­men­telle Daten“, erklärt DGN-Demenz­ex­perte Professor Dr. Richard Dodel, Essen.

Verein­facht ausge­drückt erklären die Autoren dies so: Die Impfungen führen zu einem Anstieg der Akti­vität von Mikro­glia, quasi den „Immun­zellen des Gehirns“. Sie erkennen krank­heits­aus­lö­sende Stoffe und Abfall­pro­dukte und bauen sie ab. Tier­ex­pe­ri­men­tell konnte gezeigt werden, dass die erhöhte Mikro­glia-Akti­vität nach Impfung dazu führt, dass Beta-Amyloid vermehrt abge­baut wird. Bei der Alzheimer-Erkran­kung sammelt sich Beta-Amyloid an, lagert sich dort zwischen den Nerven­zellen wie ein Belag ab und schä­digt die Nervenzellen.

Die grund­le­gende Idee vieler Alzhei­mer­the­ra­pien ist es, Beta-Amyloid aus dem Körper zu schleusen, bevor das Protein Schaden im Gehirn anrichten kann. Wenn prospek­tive Studien nun zeigen, dass wieder­holte Grip­pe­imp­fungen genau diesen Effekt haben und Beta-Amyloid abbauen, wäre das ein Durch­bruch für die Demenz­the­rapie. Die vorlie­genden Daten deuten darauf, haben aber noch keine Beweis­kraft. Der beob­ach­tete posi­tive Effekt von Impfungen auf das Demenz­ri­siko könnte letzt­lich auch daran liegen, dass Menschen, die sich regel­mäßig impfen lassen, auch sonst gesünder leben und somit ein gerin­geres Krank­heits­ri­siko haben. Daher brau­chen wir nun weiter­füh­rende, prospek­tive Studien, um den Zusam­men­hang eindeutig zu klären“, lautet das Fazit von Prof. Dodel.

Derzeit wird viel über poten­zi­elle Risiken von Impfungen disku­tiert, allge­mein, aber vor allem im Hinblick auf die Impfung gegen SARS-CoV‑2. Aber es gibt nicht nur poten­zi­elle Risiken, sondern auch poten­zi­elle Zusatz­nutzen der Impfung, die bislang in den Diskus­sionen gar nicht ange­führt werden. Für eine infor­mierte Entschei­dung sollte nach Möglich­keit aber alles bedacht werden“, betont DGN-Gene­ral­se­kretär Prof. Dr. Peter Berlit.

Origi­nal­pu­bli­ka­tion: Wiemken TL et al. Dementia risk follo­wing influ­enza vacci­na­tion in a large veteran cohort running head: Influ­enza vacci­na­tion and dementia. Vaccine. 2021 Aug 19:S0264-410X(21)01079–3. https://doi.org/10.1016/j.vaccine.2021.08.046

Quelle: Deut­sche Gesell­schaft für Neuro­logie e.V.

 

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